In der Interview-Reihe „Und was wird man damit?“ erzählen GeisteswissenschaftlerInnen, die im Beruf stehen, aus ihrem Arbeitsalltag und was ihnen das Studium tatsächlich gebracht hat.
Jonas Richter (37) hat Germanistik und Religionswissenschaft und anfangs noch ein bisschen Philosophie studiert. Jetzt ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, wo er am Mittelhochdeutschen Wörterbuch arbeitet. Das Langzeitprojekt begann 1994 und soll 2025 abgeschlossen sein. Bis dahin wird Jonas voraussichtlich noch 5017 Wortwitze reißen.
Jonas, wie bist du zu deinem aktuellen Job gekommen?
Offenbar bin ich in einem Mediävistikseminar durch ein Referat und anschließend durch eine Hausarbeit aufgefallen. Der Professor – einer der Herausgeber des Wörterbuchprojekts – hat mich dann an die Arbeitsstelle verwiesen, wo ich als Hilfskraft angefangen habe. Dort hat es mir gefallen, mit der Zeit war ich immer besser eingearbeitet, und schließlich habe ich eine Mitarbeiterstelle bekommen.
Das klingt zunächst sehr geradlinig. Ich möchte aber ergänzen: Während ich Hilfskraft war, habe ich mein Studium abgeschlossen und eine Promotion in der Religionswissenschaft begonnen. Da ging es um ein völlig anderes Thema, und als ich dann Mitarbeiter beim Wörterbuch wurde (erst auf halber Stelle, dann voll), war es schwierig, die Promotion zügig voranzubringen. Am Ende habe ich mir keinen Stress mehr gemacht, sondern die Zähne zusammengebissen und mich langsam zum Abschluss durchgekämpft. Nach neun Jahren ist die Doktorarbeit endlich fertig geworden. Diese Zweigleisigkeit des Arbeitens war also lange Zeit Teil meines Lebens.
Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Ich sitze die meiste Zeit vor dem Bildschirm und arbeite mit Textschnipseln, die wir im Wörterbuch als Belegstellen für die Bedeutungen und Verwendungsweisen der einzelnen Wörter zitieren. Immer wieder suche ich Textstellen in Editionen auf und schlage Dinge in verschiedenen Hilfsmitteln nach. Bei Verständnisschwierigkeiten oder lexikographischen Darstellungsproblemen diskutieren wir Kollegen oft kurz miteinander. Zu einzelnen Fragen recherchieren wir natürlich auch Fachliteratur.
Außerdem ist Qualitätssicherung in unserem Projekt sehr wichtig. Wir lesen untereinander einzelne Artikel oder kurze Artikelstrecken Korrektur, arbeiten Anmerkungen der Herausgeber ein und nehmen jeweils zum Abschluss einer Lieferung – einem größeren Teil des Wörterbuchs, der zunächst einzeln veröffentlicht und später mit anderen Lieferungen zu einem dicken Band zusammengebunden wird – eine aufwändige Formalkorrektur vor.
Was sind die Highlights deines Jobs?
Wir arbeiten uns ja Wort für Wort durch das Alphabet. Da muss man manchmal nach einer längeren Strecke von Rechtsbegriffen etwas überraschend anderes bearbeiten – die Bezeichnung einer Pferdekrankheit, zum Beispiel, ein theologisches Konzept oder einen derben sexuellen Ausdruck. Sich immer wieder neu in bestimmte Aspekte des mittelalterlichen Lebens und Denkens einzuarbeiten, um entscheiden zu können, ob sie im Wörterbuch dargestellt werden müssen – und wenn ja, wie – das kann manchmal mühselig sein, aber oft auch bereichernd.
Auch die Vielfalt der Quellen (Predigten, Abenteuergeschichten, naturkundliche Texte, Liebesgedichte, Urkunden u.a.m.) hält immer wieder Perlen bereit. Da stößt man unversehens auf Textstellen, die wunderschön, lustig oder auch einfach bizarr sind.
Und wenn man eine Lösung für ein kniffliges Problem gefunden hat, zum Beispiel eine elegante Darstellung, die einen schwierigen Sachverhalt in kondensierter Form übersichtlich erklärt, dann ist das sehr befriedigend.
Was hast du im Studium gelernt, was dir heute noch hilft?
Ganz offensichtlich hätte ich heute diesen Job nicht, wenn ich nicht Mittelhochdeutsch gelernt hätte. Aber interessanter ist es vielleicht, allgemeinere Fähigkeiten in den Blick zu nehmen:
Ich habe unter anderem gelernt, mich in Texten (gedruckt ebenso wie online) schnell zu orientieren. Mit wissenschaftlicher Literatur umzugehen. Mich in neue Themengebiete einzuarbeiten. Probleme präzise zu erfassen und nach Lösungen zu suchen – mal systematisch, mal kreativ-assoziativ. Argumente zu finden, verständlich zu formulieren, und mich mit anderen darüber auszutauschen.
Durch meine Studienfächer Germanistik und Religionswissenschaft bedingt bin ich darauf eingestellt, diese Fähigkeiten insbesondere in Bezug auf sprachliche Phänomene und kulturelle Eigenheiten anzuwenden, mit denen man nicht automatisch vertraut ist. Außerdem habe ich im Studium gelernt, meine eigenen Überzeugungen und auch mal die Autoritäten zu hinterfragen.
Welche Fähigkeiten und Kenntnisse findest du für deine Arbeit besonders wichtig?
Ganz allgemein: Wichtig ist unter anderem die Bereitschaft, sich im Team für ein großes Projekt zu engagieren und gleichzeitig dabei zu akzeptieren, dass auf Grund von Vorgaben, Hierarchien und längst gedruckten Präzedenzfällen nicht alles so gemacht wird, wie man es sich selbst wünscht. Wir bemühen uns, das bestmögliche Wörterbuch für die mittelhochdeutsche Schriftsprache zu machen, aber Perfektionismus wäre dabei trotzdem problematisch: Wir haben nicht beliebig Zeit, und müssen mit dem aktuellen Forschungsstand sowie dem gegenwärtigen Zustand der Quellenerschließung arbeiten – und natürlich mit unseren individuellen Schwächen. Zwischen den eigenen und den äußeren Ansprüchen vermitteln zu können und einen Kompromiss zu finden ist wichtig für das eigene Wohlbefinden.
Notwendig ist natürlich auch die Fähigkeit, mit Texten zu arbeiten – konkret: verlässlich und schnell die Gebrauchsweisen eines Wortes aus einer Reihe von Textstellen zu erkennen und zu benennen, sowie beispielhafte Stellen aus einer größeren Menge auszuwählen. Wer mit Büchern und Computern nicht gut umgehen kann, wäre bei uns aufgeschmissen. Ebenso ist es nützlich, ein gutes Sprachgefühl zu haben, aber niemals darauf zu vertrauen.
Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle auf den wunderbaren Letter to a Prospective Lexicographer von Kory Stamper hinzuweisen, der bei allem Humor einen sehr realistischen Überblick über das gibt, was einen bei lexikographischer Arbeit erwartet.
Wenn du zurückblickst auf die Anfänge deines Berufslebens, welchen Tipp würdest du dir selbst geben?
Hab keine Angst, du selbst zu sein. Hab keine Angst vor Veränderungen. Und gewöhn dir ein besseres Zeitmanagement an!
Vielen Dank, Jonas, dass du dir die Zeit genommen hast, uns einen Einblick in deinem Arbeitsalltag zu geben.
Tomma
Interessanter blog!! Kann ich dem irgendwie auf Facebook folgen?
Silke
Jetzt ja. Ab sofort kannst du meine öffentlichen Updates abonnieren: http://www.facebook.com/sinahar
Danke für die Nachricht und den Anstoß.
Woran arbeitet ihr gerade? | Urban Writing
[…] mit Leuten, die Geisteswissenschaften studiert haben und damit was Tolles geworden sind – Lexikograph zum Beispiel. Und Stefan Sagmeister lässt sich per Webcam in seine New Yorker Agentur gucken […]