Diesen Text habe ich am Mittwochabend vor der Abstimmung über den Brexit geschrieben. Da ich am folgenden Tag nicht dazu gekommen bin, ihn zu posten, geriet er unter die Räder. Nach vielen europäischen Gesprächen auf einer Konferenz in Helsinki letzte Woche habe ich festgestellt, dass er trotzdem seine Gültigkeit nicht verloren hat. Ich bin Europäerin, durch und durch.
Mittwoch, 22. Juli 2016
In dieser Woche bin ich auf einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz in Potsdam, die meinen Blick auf die Welt und auf mein eigenes Land, meine Kultur wieder einmal geschärft hat.
Während viele andere in Europa am Dienstagabend der Fußball-Elite unseres Landes dabei zusahen, wie sie gegen Nordirland antrat, streifte ich glücklich durch das wunderschöne Potsdam, das an einem der ersten ungetrübten Abende dieses Jahres mittsommerlich leuchtete und sich mir direkt ins Herz brannte. Dieser Prunk, diese majestätische, königliche Schönheit ganz in der Nähe des modernen hippen Zentrums unserer Macht traf mich ganz unerwartet. Ich bin schon zweimal hier gewesen und ich wusste noch, dass es irgendwie schön ist, aber die Schönheit hat mich bei meinen Besuchen als Zehnjährige, als Fünfzehnjährige nicht so getroffen wie jetzt, da ich so viel mehr von der Welt gesehen habe.
Der königliche Prunk Potsdams ist so fern von der bundesrepublikanischen Realität, in der ich lebe. Mit Staunen schaue ich auf meine eigene Kultur und fragte mich, ob Besucher aus anderen Ländern das als Teil meiner heutigen Identität begreifen könnten. Was soll das also heißen, dieses Label „deutsch“?
Auch auf der Konferenz werde ich täglich mit meiner eigenen Kultur konfrontiert. Schon mehrmals kamen die Gespräche mit Kanadiern, Norwegern, US-Amerikanern und Weißrussen auf die Flüchtlingsfrage, die Deutschland bewegt, auf den möglichen Brexit, auf meine Liebe zu Europa und zur europäischen Idee. Hier im Zentrum einer Geschichte, die für mich nur noch abstrakt existierte, werde ich zurückgeworfen auf unsere deutsche Gegenwart. Wie ist das mit den Flüchtlingen, der Fremdenfeindlichkeit, dem Nationalismus in Europa? Glaube ich, dass Frau Merkel einen guten Job macht? Will ich, dass die Briten in der EU bleiben? Mag ich Polen? Und was halte ich von Putin?
Ich war nicht nur persönlich gefragt, sondern fühlte mich – grade in der Reibung mit anderen Sichtweisen – als Repräsentantin meines Landes, unserer Kultur und Werte. War ich am Anfang dieser Gespräche noch unsicher, wie deutlich ich werden konnte, so wurde ich immer stärker, klarer, stolzer. Ja, ich glaube an die europäische Idee. Nein, ich habe keine Angst, dass Flüchtlinge den Terror nach Deutschland bringen. Ja, ich finde, wir müssen Schutzbedürftigen Schutz gewährt. Nein, ich finde nicht, dass Deutschland eine stärkere Führungsrolle in Europa übernehmen sollte. Und je klarer ich mir meiner eigenen Position wurde, desto deutlicher spürte ich, wie subjektiv meine Sicht ist.
Abends sah ich meine virtuelle Welt geflutet von Weltbildern, die so gar nicht mit meinem vereinbar zu sein scheinen. Britische Freunde, die sich auf Facebook für den Austritt Großbritanniens aus der EU aussprachen, amerikanische Herzensmenschen, die ihr Recht eine Schusswaffe zu tragen proklamierten und „make America great again“ fordern, russische Bekannte, die ihre EM-Hooligans feierten und mir auf Nachfrage erklärten, diese Gewalt sei doch nur ein Ventil, um richtige Kriege zu verhindern. Nichts davon passt zu meinen Ansichten, meinen Überzeugungen, meinem Weltbild. Da ich all diese Leute mag und mir meiner eigenen Standpunkte sehr sicher bin, ist es mir möglich, ihre Argumente auszuhalten, nachzuvollziehen und ihnen standzuhalten, die Menschen hinter den Meinungen zu respektieren, nicht zu verurteilen, auch wenn es anders so viel leichter wäre.
Preußisch ist inzwischen zu einer Untermenge der deutschen Identität geworden, ebenso wie bayrisch oder friesisch. So lange wir einen großen gemeinsamen Nenner haben, können alle Untermengen weiterhin bestehen. Es muss doch möglich sein, dass wir uns selbst, unsere Errungenschaften gut finden, zu unserer Meinung stehen, ohne uns über die anderen zu erheben. Stolz, Überzeugung und eine eigene Identität muss doch auch ohne die Abgrenzung und Herabwürdigung dessen, was anders ist, funktionieren. Das ist meine Vision von Europa: Ich hoffe, dass wir irgendwann auf das Label „deutsch“, „französisch“ oder „polnisch“ so schauen werden, wie wir heute „preußisch“ als Teil der deutschen Identität begreifen; dass das Nationale aufgegangen ist in etwas Größerem. Und das ist gleichzeitig meine Hoffnung für die Welt: Dass wir uns als Menschen sehen und nicht als Fremde.