Trolle sind im Online-Kontext Störenfriede und Stänkerer, die durch ihre provokanten, polemisierenden, nervigen Kommentare Unfrieden stiften wollen, was man auch als trollen bezeichnet. Bei einer Internet-Konferenz wie der re:publica weiß ich daher sehr genau, was ich von einer Session mit dem Namen The art of trolling zu erwarten habe. Es kam allerdings ganz anders, denn die Vortragenden hielten sich an ihr Thema (und ihre Sessionbeschreibung): Sie erzählten etwas über eine bestimmte Art des Angelns – die man auch Trolling nennt.
Das war nur eine Gelegenheit, bei der diese Konferenz mir eine neue Perspektive eröffnete. In den klassischen Medien wird die re:publica gerne als Zukunftskonferenz bezeichnet. Für die Menschen dort ist es aber eher ein Austausch über den Status Quo, eine Inspirationsquelle, ein soziales Event, ein Klassentreffen, eine Diskussionsgelegenheit und durch die so unterschiedlichen Themen eben auch eine Horizonterweiterung.
Meine 7 Lieblingssessions
Bei jeder anständigen Konferenz entstehen die wichtigsten Gespräche und Erkenntnisse beim gemeinsamen Kaffee oder Bier – klar. In meinem Fall waren besonders die Mittags- oder Abendessenbegegnungen während der re:publica nicht zu verachten. Aber „nebenbei“ gab es auch 300 Stunden Programm, bei dem die spannendsten Sessions – auch klar – immer parallel lagen. Viele davon wurden aber aufgezeichnet, so dass der Rückblick auf meine Top 7 gleichzeitig eine Einladung auf meine re:publica-Reise ist:
Rosetta 1 – Kardashian 0. How we (almost) broke the internet
Am 12. November 2014 landete Philae, nachdem dieser Lander gemeinsam mit der anderen Raumsonde Rosetta über zehn Jahre lang durch den Weltraum geflogen war, auf dem Kometen 67P/C-G (auch bekannt als Tschuri). Das war die erste Kometenlandung in der Geschichte der Raumfahrt. Warum ausgerechnet ich das so genau weiß? Die Mission wurde von einem tollen Social-Media-Team begleitet, das aus den Raumsonden Persönlichkeiten erschuf, und dadurch Wissenschaft und Raumfahrt wieder mitfieberbar machten.
Auf der re:publica stellten einige Mitglieder des Social-Media-Teams einem begeisterten Publikum die Mission und ihren Anteil daran vor. Die Session war für mich sehr spannend, weil ich die Arbeit der Kollegen begeistert verfolgt hatte. Dass ich damit nicht alleine war, wurde in dieser Session deutlich: meine erste re:publica-Session, in der echte Begeisterung zu spüren war.
Alexander Gerst: Blue Dot Mission – Sechs Monate Leben und Arbeiten auf der ISS
Der Astronaut Alexander Gerst, unser Mann im All, ist entweder eine geborene Rampensau oder er hatte verdammt gutes Bühnentraining. Oder beides. Zugegeben: Er hatte auch beeindruckende Fotos und einmalige Geschichten von seiner Zeit auf der Internationalen Raumstation auf seiner Seite. Er verstand es, die Zuhörer für Wissenschaft zu begeistern, sprach Probleme wie Krieg und Umweltzerstörung an, ohne die moralische Keule rausholen zu müssen, und hatte großartige Weltraum-Geschichten über Unterhosen und Klobesuche auf Lager. Astro Alex ist ein toller, sehr sympathischer Botschafter für Wissenschaft und Forschung und seine Session zur „Blue Dot Mission“ sehr sehenswert.
Workshop Gebärdensprache
Für diesen Workshop ließ ich schweren Herzens die Kavalier_innen_reise sausen. Doch es hat sich gelohnt! Mathias Schäfer und Corinna Brenner eröffneten mir in ihrer kurzen Einführung in die Gebärdensprache sehr sympathisch eine ganz neue Welt des Denkens und der Kommunikation. Die Session pflanzte außerdem den leisen Verdacht in mich, dass Gehörlose uns Hörende als sehr lahm, zappelig und ignorant empfinden müssen. Leider gibt es diese „mindbuggling“ Session nicht zum Nachschauen im Netz, aber bei meiner VHS gibt es ab Herbst sicher wieder einen Gebärdensprachkurs.
Fremd gehen immer nur die anderen – Liebe und Beziehung in Zeiten der Digitalität
Herrlich erfrischend hat mich Journelle in ihrer Session zu Liebe in Zeiten des Internets begeistert. Ihr unverkrampfter, leicht nerdiger Blick auf unsere Vorstellungen von und Erwartungen an Beziehung, Liebe und Partnerschaft hat viel Spaß gemacht.
Sketchnotes für Einsteiger
Sketchnotes sind Notizen in Form von selbstgemalten Bildchen. Schon auf der Hinfahrt hatte ich mit meiner Reisebegleitung über diese Session gesprochen. Hingegangen bin ich aber trotzdem nicht, weil irgendetwas dazwischen kam. Dafür war es gleich die erste Session, die ich mir hinterher angesehen habe. Jetzt juckt es mich sehr in den Fingern, diese Art des Kritzelns, Zeichnens, Malens und Visualisierens auch zu üben. Sollte es soweit kommen, halte ich euch bestimmt auf dem Laufenden.Digitales Europa – analoges Urheberrecht: Wie schaffen wir die Wende?
Die von mir besuchten Sessions zum Urheberrecht waren – zu meiner eigenen Überraschung – alle sehr interessant. Besonders interessant fand ich die Session mit Julia Reda, die für die Piraten im Europäischen Parlament sitzt. Sie sensibilisierte mich für die Absurditäten des veralteten Urheberrechts in Europa und für die diplomatischen Herausforderungen bei der Konsenzfindung im politischen Umfeld. Ein interessanter Einblick in die europäische Politik und die Schwierigkeiten der Urheberrechtsreform, der gut durch die Session Copyright reform, state of play ergänzt wurde.
Der Rabbi und die koscheren Gummibärchen – Die deutsch-jüdische Blogosphäre
Beim Thema „Horizonterweiterung“ darf diese Session nicht fehlen: Juna Grossmann zeigte bei ihrem kleinen Überblick verschiedener jüdischer Blogs und ihrer Themen die Vielfalt und Normalität jüdischen Lebens. Erstaunlicher Weise hatte ich damit seit meinem Studium keine Berührungspunkte mehr. Umso besser, auf diesen interessanten Teil der Blogosphäre aufmerksam gemacht worden zu sein.
Und nun?
Sieben, na gut: 7 1/2. Von knapp 500 Session. Jetzt habe ich Herrn Dueck mit seiner Schwarmdummheit ebenso unter den Tisch fallen lassen (weil ich ihn in den Videos genauso inspirierend finde wie live) wie die unterhaltsame Session zu Twitter-Humor (die euch leider entgeht, weil es keine Aufzeichnung gibt), den sehr interessanten Jahresrückblick Social-Media-Recht und die Lightning Talks der Digital Media Women sowie alle anderen bestimmt spannenden Lightning Talks (weil ich die noch nicht nachgeschaut habe). Ansehen will ich mir außerdem noch dringend die bei Film & TV made in Germany vorgestellte Serie „Der Lack ist ab“ (Nina hat schon einmal kompetent zusammengefasst, warum die sich lohnt) und außerdem … – stopp! Den Rest erzähle ich euch bei einem Bier.
Sieben Jahre nachdem ich zum ersten Mal von dieser Konferenz gehört hatte, konnte ich endlich live dabei sein. Ich erinnere mich mit einem Lächeln an dreieinhalb intensive Tage, an denen viele Begegnungen mein Herz erwärmten, ich mein Hirn durchpusten ließ und mich auf neue Wege begab. Eins steht fest: re:publica hat Langzeitwirkung. Und die hat gerade erst begonnen.
Bildnachweise:
Beitragsbild: re:publica 2015 – Tag 1 von re:publica/Gregor Fischer, CC BY 2.0
Alexander Gerst: re:publica 2015 – Tag 2 von re:publica/Gregor Fischer, CC BY-SA 2.0
Zeichnung: re:publica 2015 – Tag 0 von re:publica/Gregor Fischer, CC BY-SA 2.0
Launch: re:publica 2015 – Tag 0 von re:publica/Gregor Fischer, CC BY-SA 2.0