Am großen Tag meiner großen Schwester wachte ich morgens bei Freunden in Leipzig auf und merkte, dass das Adrenalin der vergangenen Tage von den trockenen Tränen aus meinen Träume weggespült worden war. Statt sie anzurufen, ihr heiser ein schiefes Geburtstagslied zu singen und mit ihr darüber zu kichern, lauschte ich auf die dumpfe Stille in mir.
Einer dieser heilsamen Menschen meines Lebens fragte mich zur morgendlichen Begrüßung grinsend: „Ach, sieht man dich auch mal?“ und weiß wohl nicht, dass er mir damit die dunkelsten Wolken wegpustete. Ein junger, noch sehr schweigsamer Mann zeigte mir den Fischteppich in seinem Kinderzimmer und seine Mama lächelte mein Herz warm. Beim gemeinsamen Frühstück redeten wir über das Leben und unsere Träume, über all das, was wir im letzten Jahr gelernt haben und was das Leben uns geschenkt hat. Ein würdiges Geburtstagsgeschenk für eine Frau, die nichts mehr braucht.
Dann verließ ich Leipzig, um zu ihrer Party zu fahren. Durch die vier Stunden Autobahn trug mich der Soundtrack meines Lebens, aus dem ich vorsichtshalber alle Stücke gelöscht hatte, zu denen sie und ich immer zusammen getanzt hatten. Unsere Lieder. Damals in meinem anderen Leben.
Nachmittags bei ihrer Party saßen sechs Menschen am Tisch, die sich einander größtenteils vorstellen mussten, weil ihr einziges Bindeglied die Liebe zu meiner Schwester ist. Doch das genügt. Wieder einmal zeigte sie, welch ein Menschenerkenner und Menschenverbinder sie ist. Und sie hätte diesen Nachmittag geliebt: Wir redeten viel und laut und manchmal durcheinander und lachten zwischendurch ein bisschen. In unser aller Herzen grinste dazu meine Schwester mit glühendem Gesicht. Ja, das war genau ihre Geburtstagsparty, auch wenn ihr Platz leer blieb.
Eine ihrer Freundinnen und ich diskutierten, ob meine Schwester grade barfuss über die Wolken tanzt oder doch mit dem Trettroller fährt. Aber eigentlich wussten wir: Zu dem Zeitpunkt unternahm sie weder noch. Da war sie heimlich bei ihrer Geburtstagsparty und freute sich über ihre Geschenke an uns.
Am Abend spazierten ihre Mama und ich durch den Frühling und lauschten dem Vogelkonzert. Dann schnappten wir uns einen Atlas und das Internet und planten ein Sommerabenteuer, zu dem sie nie mitgekommen wäre. Warum auch? Ich dachte daran, wie meine Schwester die Stirn in Falten legte, wenn der Wind sie anpustete. Oder wenn ich sie an den Füßen kitzelte. Daran, wie ich tobte, wenn sie – exklusiv für mich! – mit den Zähnen knirschte. Wie wir uns gegenseitig ein bisschen ärgerten, jede punktgenau und auf ihre Weise. Dafür sind Schwestern ja schließlich da.
Der große Tag meiner großen Schwester 2016 war voller Leben und leerer Flecken. Es war kein Was-wäre-wenn-Tag, sondern ein Scheiße-so-ist-es-Tag. Ein Tag, an dem ich wieder staunend die Geschenke bewunderte, die sie mir hinterlassen hat. Ein Tag, an dem wir lachten und weinten und zurückblickten und planten. Ein Tag, an dem wir das Leben feierten, von dem meine große Schwester immer noch ein Teil ist, auch 448 Tage nach ihrem letzten Atemzug in unseren Armen.
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Der Tag war vor sechs Wochen und fast genauso alt ist dieser Text. Es wird Zeit, ihn in die Welt zu entlassen. Happy birthday Sonnenschein.
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