In der Interview-Reihe „Und was wird man damit?“ erzählen jeden Dienstag GeisteswissenschaftlerInnen, die im Beruf stehen, aus ihrem Arbeitsalltag und was ihnen das Studium tatsächlich gebracht hat.
Heute: Wibke Ladwig, Social Web Ranger.
Nach einem kurzen Ausflug in die Geographie studierte Wibke Ladwig (43) elf Semester lang Kunstgeschichte im Hauptfach. Dann schmiss sie das Studium und absolvierte erfolgreich eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Anschließend arbeitete sie mehrere Jahre im Buchhandel und in Verlagen, bis sie sich 2010 selbstständig machte. Mit Sinn und Verstand erfand sie ihren eigenen Beruf und wurde Social Web Ranger für den Landschaftsraum Internet.
Wie bist du zu deinem aktuellen Job gekommen, Wibke?
Halb zog es sie, halb sank sie hin … Der Verlag, in dem ich zuletzt gearbeitet habe, wurde in Teilen verkauft und zog um. Es gab die Option, Online Manager für den Verlag zu bleiben und nach Mannheim umzuziehen. Ich hätte auch dasselbe oder etwas Ähnliches in einem anderen Verlag machen können. Aber plötzlich stand auch die Möglichkeit im Raum, mich selbstständig zu machen. Dass ich zunächst als freie Mitarbeiterin für den Verlag weiterarbeiten konnte, erleichterte mir die Entscheidung. Nichtsdestotrotz brauchte es eine ganze Weile, bis ich zu meinem selbsterfundenen und nach wie vor sehr beweglichen Berufsbild des Social Web Rangers gefunden habe.
Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Es gibt im Grunde zwei Alltage: Es gibt den einen Alltag zuhause am Schreibtisch. Seit Anfang des Jahres bin ich zu guter Letzt, nach zwei Außenbüros, im Home Office angekommen. Damit bin ich sehr zufrieden, da ich viel unterwegs bin und ich am heimischen Schreibtisch gut arbeiten kann. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich meine Arbeitstage sehr flexibel handhaben kann. Ich habe keine festen Bürozeiten mehr. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich mich immer noch damit schwer tue, Pausen zu machen oder mal nicht zu arbeiten. Ich bemühe mich, das besser zu machen. Immerhin ist Selbstfürsorge als „frei schwebendes Elementarteilchen“ sehr wichtig, um gute Arbeit machen zu können.
Der Arbeitsalltag zuhause besteht vor allem im Schreiben, Ideen und Konzepte zu entwickeln, Kommunikation mit Kunden und Kollegen, professioneller Prokrastination, Abklopfen von neuen Diensten und Tools, Lesen, dem Anstiften von anderen zu irrwitzigen Kreativprojekten und leider auch aus den Zwängen der Bürokratie.
Mein anderer Arbeitsalltag spielt sich unterwegs ab: Workshops, Coachings, Seminare oder Vorträge. Oftmals sind es ganze Tage, an denen ich mit 5 bis 20 Menschen arbeite. Das macht mir viel Vergnügen, aber kostet auch viel Kraft. Mittlerweile weiß ich durch den Austausch mit Kolleginnen, dass es normal ist, dass man an den Tagen danach so eine Art Workshop-Jetlag hat. Ich kann auch nicht mit weniger als 100% arbeiten und habe einen hohen Anspruch an mich selbst und das Ergebnis des Tages. Nervt mich selbst manchmal ganz schön. Ich setze aufs Alter und bemühe mich, weiser und gelassener zu werden. Zu diesem Arbeitsalltag gehört dann auch das Reisen. Da versuche ich, möglichst nicht zu arbeiten.
Insgesamt versuche ich, meine Arbeit so zu sortieren, dass ich mich nicht völlig verausgabe. Es macht einfach mehr Freude, konzentriert und mit Energie arbeiten zu können. Schlappheit macht gereizt und raubt Kreativität. Und man wird öfter krank. All das kann und will ich mir nicht leisten.
Was sind die Highlights deines Jobs?
Ich liebe Veranstaltungen wie die Buchmessen oder die re:publica. Ich müsste die nicht ständig haben, weil mich so ein Menschenbad immer ziemlich erschöpft und ich danach wieder Phasen des Rückzugs brauche. Aber ich finde es wunderbar, mich in diese Veranstaltungen hineinzuwerfen und einige Tage lang mal jenseits des Alltags zu „urlauben“. Wenn ich dann noch auf irgendeiner Bühne herumhopsen darf: umso besser! Mir macht das Spaß, und ich lerne immer wieder etwas über mich dazu.
Was hast du im Studium gelernt, was dir heute noch hilft?
Tja, nun muss ich gestehen, dass ich mein Studium wohl etwas unorthodox angegangen bin. Ich kam als Mädchen vom Land in die Stadt und mir gingen die Augen über, wenn ich diese ganzen verrückten und verlockenden Vorlesungen und Seminare sah. Ich bin in viele Veranstaltungen dann rein, obwohl ich das Fach gar nicht studierte. Während ich meine Pflichtveranstaltungen völlig vergass. Das würde man heute vielleicht Prokrastination nennen. Ich war bei den Anglisten und hörte mir an, was Professor Lessenich (der mitunter in Tweedjackett und Reithosen in die Uni kam) über Oscar Wilde und Lord Byron erzählte. Ich war bei den Skandinavisten und hörte einem langhaarigen Norweger zu, was es mit der Amerikanisierung seines Landes auf sich hatte.
Diese Extratouren blieben mir besser im Gedächtnis als das, was ich eigentlich hätte lernen müssen. Und das ist, was ich erst im Nachhinein begriff: Ich lernte, auf mich zu hören und mich weniger an den Erwartungen von anderen zu orientieren. Ich verstand, was es mit intrinsischer Motivation auf sich hatte. Letztlich brauchte ich aber einige Jahre, um auch entsprechend zu handeln. Währenddessen musste ich sehr viel feiern, auf Konzerte gehen, Bücher lesen, Rotweindiskussionen führen und nach London fahren. All das, was im Sauerland nicht möglich war.
Irgendwann stellte ich fest, dass ich viel lieber arbeitete als zu studieren und zog meine Konsequenzen: Innerhalb einer Woche war ich exmatrikuliert und hatte mir eine Ausbildungsstelle zur Buchhändlerin besorgt.
Welche Fähigkeiten und Kenntnisse findest du für deine Arbeit besonders wichtig?
Wesentlich für meine Arbeit ist, mich nicht von Zuständigkeiten und Fachgebieten abschrecken zu lassen. Selber denken, Schlüsse ziehen, ohne Sicherheitsnetz eigenverantwortlich handeln und Bezüge in Kultur und Wissenschaft zu finden: Das macht meine Arbeit überhaupt erst möglich.
Wir leben in einer sich stark wandelnden Arbeitswelt und Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass mit das geisteswissenschaftliche Studium sehr geholfen hat, mich mit unterschiedlichen Denk- und Lebensmodellen auseinanderzusetzen, Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und einer möglichen Zukunft herzustellen und mich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen. Gerade in Kunst und Kultur kann man gut ablesen, dass sich viele Muster in der Menschheitsgeschichte wiederholen und der Mensch der Gegenwart sich vorangegangenen Generationen immer wahnsinnig überlegen fühlt.
Das erdet enorm bei gleichzeitiger Beflügelung des Geistes. Denn natürlich bekommt man auch gerade in den Geisteswissenschaften mit, zu welche enormen Gedanken und Fantasien Menschen in der Lage sind – weit vor der möglichen Realisierung durch technische Hilfsmittel, deren Erfindung meist durch Menschen möglich wurde, die sich nicht brav an die Norm hielten, sondern wild herumexperimentierten und schräge Sachen ausprobierten.
Wenn du zurückblickst auf die Anfänge deines Berufslebens, welchen Tipp würdest du deinem 25-jährigen Ich geben?
Mit 25 Jahren hatte ich gerade mein Studium abgebrochen und meine Ausbildung zur Buchhändlerin begonnen. Ich hatte schon immer gern und viel gelesen, aber nun war ich an der Quelle. Das hat mich in den ersten Jahren beinahe in den Ruin getrieben, weil ich fast mein komplettes Salär in Bücher investierte. Ich war geradezu im Rausch. Aber das würde ich meinem damaligen Ich gestatten, denn es war ein schöner und selig machender Rausch.
Meinem 25-jährigen würde ich dringend ans Herz legen, nicht nur zu lesen und über andere zu staunen, sondern selbst kreativ zu sein, zu schreiben, zu kritzeln, Impro-Theater zu spielen, mich nicht von Selbstzweifeln an irgendetwas hindern zu lassen. Und sofort mit Bloggen anzufangen!
Worin liegt das Superheldenpotenzial von Geisteswissenschaftlerinnen?
Ich finde, die Welt braucht unbedingt mehr Geisteswissenschaftler auch in entscheidenden Positionen. Es ist schlicht ein anderes Denken als nur das in Zahlen, wirtschaftlichen Ergebnissen und Prozessen. Und da unsere Welt nun mal deutlich mehr zusammenhält, hoffe ich, dass das vorbildliche Kanada mit einem Geisteswissenschaftler als Premierminister und seiner inspirierend bunten Regierungsmannschaft international wirken wird. Kunst, Kultur und Bildung sind angesichts einer sich sehr wandelnden Welt und brüchigen Gesellschaftssystemen dringend nötig.
Vielen Dank, Wibke, für diesen Einblick in deine Ausbildung zum Social Web Ranger und in deine Arbeitswelt.
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Details zum coolen kanadischen Kabinett
Bildnachweis: Wibke Ladwig, Foto von Falk Hedermann