Meine fünfjährige Nichte ist ein schlaues Köpfchen. Am Wochenende haben wir zusammen Rechnen geübt, weil sie das so aufregend findet. Ich habe ihr die Sache mit der Hälfte von etwas erklärt. Dabei habe ich gewitzelt, dass es sehr wichtig ist, genau zu wissen, wie man etwas in zwei gleich große Teile teilt, weil sie ihrem mini Bruder irgendwann die Hälfte der Schokolade abgeben muss. Sie hat mich gefragt, ob ich ihrem Papa früher auch immer die Hälfte abgegeben habe – das mit dem Papa-Bruder-Schwester-Tante-Prinzip hat sie nämlich auch schon verstanden. „Ja, natürlich!“, habe ich pädagogisch wertvoll geantwortet. „Weil du die Große bist“, nickte sie verständnisvoll.
Da musste ich dann richtigstellen, dass ich die Jüngste bin, obwohl ich inzwischen die Größtgewachsene bin, dass ihre andere Tante (die Kleinste) die Älteste ist und dass ihr Papa der Mittlere von uns drei Geschwistern ist. „Aber jetzt ist mein Papa der Älteste, weil deine Schwester ja tot ist“, beschloss meine schlaue Nichte. Eigentlich sehr clever argumentiert … aber Moooment! Ich sagte ihr, dass sie eigentlich recht habe, dass das so schnell aber nicht gehe, denn älter als unsere Schwester war, ist ihr Papa ja schließlich noch nicht. Ich bot ihr aber an, noch einmal über das Thema zu reden, wenn das dann soweit ist. Das fand sie okay und wir rechneten weiter mit Äpfeln und Muscheln.
Was ich ihr in diesem Moment nicht sagen konnte, weil ich es nur gefühlt habe, ist, dass man in einer Geschwister-Hierarchie nicht plötzlich zum Ältesten befördert werden kann. Auch nicht mein großer Bruder, obwohl er es verdient hätte, denn das ist nicht sein Platz. Wir Drei stehen in einer Linie. Einer ist ohne die anderen nicht denkbar. Wir sind im Leben der anderen gegenwärtig, auch wenn wir grade nicht da sind und ein paar Wochen noch nicht mal telefonieren. Unsere bisherigen gemeinsamen Leben haben uns geprägt: Wir haben in den Leben und den Persönlichkeiten der anderen Spuren hinterlassen. Keiner von uns wäre, wer wir sind, ohne die zwei Geschwister. Und deshalb sind wir noch da, auch wenn wir nicht mehr da sind.
In meinem Herzen wohnen mein Bruder und meine Schwester; Das wird immer so bleiben. Beide haben ihre besonderen Aufgaben, jeder seine Rolle in meinem Leben, seinen festen Platz in meinem Herzen. Wir können nicht aufrücken oder nachrücken, weil wir uns nicht gegenseitig ersetzen können und weil kein Platz frei werden kann. Die sind auf Lebenszeit vergeben. Und darüber hinaus. Trotzdem wird es in meinem Herzen nicht zu voll und ich habe vielleicht sogar trotzdem mehr Platz als vorher. All das werde ich meiner Nichte doch noch irgendwann erklären. Sie versteht es bestimmt genauso schnell wie das mit der Hälfte. Und wenn sie ganz viel Glück hat, ist im Herzen ihres Bruders ein Platz nur für sie reserviert. Genauso viel Glück wie ich es habe.