Mit guten Büchern kann man bekanntlich an die entlegensten, unglaublichsten Orte reisen. Fremde, ferne, fantastische Welten entstehen mit den Geschichten im Kopf. Auch wenn viele Menschen Dasselbe lesen, so erschafft sich doch jeder seine eigene Version – bis ein Buch zum Film gedreht wird. Danach hat man es schwerer, die eigenen Vorstellungsbilder zu erhalten. Dafür kann es passieren, dass man die fantastischen Welten plötzlich nicht nur im Kopf bereisen kann, sondern aus der Vision ein realer Ort wird. So wie Mittelerde. Seit Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Trilogie liegt dieses sagenumwobene Land mitten in Neuseeland. Es gibt viele Möglichkeiten, nach Mittelerde zu reisen. Einige davon habe ich ausprobiert:
Der erste Weg führte mich natürlich ins Auenland in ein kleines Hobbit-Dorf am Rande von Matamata im Herzen der Nordinsel. Dort wurde auf dem Gelände einer Schaffarm Hobbingen mit 43 großen und kleinen Hobbit-Höhlen aufgebaut. Dass die meisten Höhlen nur Fassade sind, man also nicht hineingehen kann, vergisst man fast, wenn man durch das Dorf streift. Alles ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet: Wäsche hängt auf der Leine, Gemüse liegt auf dem Gartentisch, Bienenkörbe stehen auf der Wiese, auf der Bank liegt eine scheinbar vergessene Pfeife und Schilder im Hobbit-Stil weisen den Weg zum Pub. Die absoluten Highlights sind natürlich das berühmte Bag End, der Wohnsitz von Bilbo und Frodo, und die Party-Eiche, unter der Bilbo seinen berüchtigten 111. Geburtstag feierte. Nachdem ich mich mit einer Tour ausführlichst im Dorf umsehen konnte, ging ich um den See, an der Mühle vorbei, über eine tolle Brücke, um im „Grünen Drachen“, dem lokalen Pub, einzukehren. Dort gab es selbst gebrautes Bier in verschiedenen Variationen, bevor ich wieder zurückkehrte in die kantige Menschenwelt des 21. Jahrhunderts.
Der nächste Ausflug nach Mittelerde war aber nicht weit: In Wellington, der Hauptstadt Neuseelands und der neuseeländischen Filmindustrie, werden Touren zu verschiedenen Drehorten der Umgebung angeboten. Ich hatte Glück und erwischte einen tollen Guide, der es schaffte, Mittelerde auferstehen zu lassen, sodass ich beinahe hinter dem nächsten Baum einen Ork erwartete. Mit Musik aus den Filmen, Setfotos und jeder Menge Geschichten wurden die Dreharbeiten wieder lebendig. So erfuhr ich ganz nebenbei, dass Orks ja jetzt gen Norden gezogen sind und in Auckland wohnen, dass Peter Jackson die Schauspieler den Berg rauf- und runtergejagt hat, damit sie richtig erschöpft aussehen, statt die Maske damit zu behelligen und dass ein Brunnen unten in der Stadt deshalb so berühmt ist, weil ein gewisser Hobbit-Darsteller da mal nachts nach einer Party „Wasser“ hinzugefügt hat.
Wellington, oder auch: Wellywood, ist überhaupt ein wahres Mekka für Film-Fans. Hier gibt es zum Beispiel die Filmfirma Weta mit ihren Werkstätten und dem Trickstudio. Man kann den Weta-Cave besuchen, eine Mischung aus Museum, Werkstatt und Shop, und es gibt eine Führung durch einen kleinen Bereich der Werkstätten, wo Film-Requisiten hergestellt werden. Hier durfte ich originale Requisiten aus bekannten Filmen bestaunen, Material und Dummies ausprobieren und lies mir genau erklären, wie die Gegenstände hergestellt werden und warum das so aufwendig ist. Wenn man Glück hat, erhascht man einen Blick auf ein aktuelles Projekt, das man dann Monate später im Kino wiederentdecken kann. Ich habe etwas gesehen – habe aber keine Ahnung, was da wohl mal draus werden soll … Dafür traf ich noch auf alte Bekannte wie Trolle, Uruk-hais, Orks, Gollum, Gandalf, TinTin und Aragorns Schwert.
Nachdem ich es geschafft hatte, mit heiler Haut aus Wellington abzureisen, gab es im Rest des Landes noch Dutzende Drehorte zu besichtigen. In ganz Neuseeland erkennt man Drehorte einzelner Sequenzen, die dann oft durch geschickte Schnitttechnik mit Sequenzen ganz anderer Drehorte zu den bekannten Szenen in den Filmen zusammengefügt werden. Vor Ort erfordert das etwas Fantasie, besonders wenn man ohne Tourguide unterwegs ist. Eindeutig zu erkennen war zumindest der höchste Berg Neuseelands, der Mount Cook, die umgebenden Berge (alias die Misty Mountains) und der Pukaki-See, die alle in den bisherigen Mittelerde-Filmen heimliche Stars sind.
Neuseeland vermarktet sich gut als Mittelerde: unaufdringlich, mit gewohntem Witz und neuseeländischem Charme. Auch im Alltag fand ich immer wieder Seitenhiebe auf das Thema und die Kiwis identifizieren sich – augenzwinkernd – damit. So war es stehts eine Freude von Neuseeland nach Mittelerde zu reisen und wenn man erst einmal dort war, ist eigentlich klar: Mittelerde war schon immer in Neuseeland; vor Peter Jackson haben wir es nur nicht gemerkt.