Am Berliner Hauptbahnhof wurde ich neulich Zeuge einer polizeilichen Sensibilisierungsmaßnahme: In einer gestellten Gewalttat bedrängten zwei Männer eine Frau, wohl um zu sehen, wie die Passanten reagieren. Anscheinend reagierten sie gar nicht. Ich ging erst an der Stelle vorbei, als schon eine Polizistin mit Megaphon die Situation aufklärte und die Umstehenden fragte, warum sie nicht eingeschritten waren. Zwei der angesprochenen Frauen, die auf einer Bank gesessen und die Situation beobachtet hatten, standen auf und flüchteten vor der Konfrontation.
Seitdem frage ich mich immer mal wieder, was ich getan hätte, wenn ich früher vorbeigegangen wäre. Wäre ich mutig eingeschritten? Oder hätte ich auf mein Handy gestarrt, getan als sähe ich es nicht? Hätte ich es vielleicht tatsächlich nicht bemerkt, blind für die Welt, wie ich manchmal bin? Und die eigentliche Frage: Wäre ich die Heldin gewesen, die ich sein möchte?
Ich kann es wirklich nicht sagen. Zwei Ereignisse aus meiner Vergangenheit geben mir Hoffnung: Einmal habe ich im Bus einen Mann laut angesprochen, der sich an einem Rucksack zu schaffen machte, den eine Frau dort kurz vorher abgestellt hatte, bevor sie noch einmal schnell zum Busfahrer gegangen war. Beim zweiten Mal habe ich einer pöbelnden Gruppe Jugendlicher in einem Regionalzug Paroli geboten.
In beiden Situationen musste ich mich nicht überwinden, mich den Tätern zu stellen – ich musste mich überwinden aufzufallen, laut zu werden, aus der Anonymität hervorzutreten. In beiden Situationen war einer der Aspekte, die mich einschreiten ließ, der kurze Vorlauf, den ich hatte. Im Bus hatte ich gesehen, dass die Frau ihre Tasche abstellte und wegging. Das hielt ich für eine ziemlich gewagte Idee. Im Zug war ich von den Pöbeleien aufgewacht, war kurz zu benommen und dachte dann: „Beim nächsten Mal sage ich was.“ Und das tat ich dann.
Hinterher klopfte mein Herz wie verrückt, das Blut rauschte mir durch den Kopf. Was ich gesagt hatte, hallte in meinem Kopf nach und klang bei jedem Mal blöder.
Und ich kam mir auch ein bisschen blöde vor. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Typ, den ich da so lautstark bezichtigt hatte, sich an fremdem Eigentum zu vergehen, der Ehemann der Rucksackbesitzerin war. Als ich mich peinlich berührt entschuldigte, kam die Frau dazu, die sagte, es sei schon okay und sie sei froh, dass ich auf ihren Rucksack aufgepasst hätte. So richtig überzeugend klang sie dabei nicht, merkte sich mein adrenalin-geflutetes Hirn. Und trotzdem würde ich es wieder tun.
Im Zug bekam ich nach einer kurzen verdutzten Stille Beifall von anderen Fahrgästen. Und jemand rief aus einer Ecke: „Endlich sagt mal jemand was!“ Danach verhielten sich die Jugendlichen tatsächlich ruhig. Meine Schräg-gegenüber-Nachbarin raunte mir zu, dass die Jugendlichen die Zugbegleiterin als ich noch schlief ganz doof angemacht hätten. Auf meine fassungslose Rückfrage, ob denn niemand etwas getan hätte, schüttelte sie nur stumm den Kopf.
Here is the thing: Ich glaube, dass die meisten Menschen Helden sein können und es auch sein wollen. Ich habe das Gefühl, dass es in diesen Situationen eher der Zufall war, der mich mutig gemacht hat. Ich glaube auch, dass es hilft, sich theoretisch mit solchen Situationen auseinander zu setzen und die Mechanismen zu erkennen, die uns am Held-sein hindern, damit wir, wenn es soweit ist, diese Hürden zumindest schon einmal theoretisch genommen haben.
Am Mittwochabend, zum Beispiel, sah ich einen Mann auf einem Pfosten sitzen, der sich den Kopf hielt. Vielleicht war er einfach nur müde. Vielleicht hätte er aber auch Hilfe gebraucht. Ich habe ihn nicht angesprochen, weil ich mir übergriffig vorkam, mich nicht einmischen wollte, ich in Begleitung war und nicht unangenehm auffallen wollte (hey, Begleitung, hätte es dich gestört?). Im Nachhinein denke ich, dass ich eine Gelegenheit verpasst habe, die Welt ein bisschen mehr zu dem Ort zu machen, an dem ich leben will.
Beim nächsten Menschen, der Hilfe brauchen könnte, bin ich hoffentlich mutiger. Ich hoffe, ich habe meine Rückhaltemechanismen erkannt und dadurch genug gelernt, um sie beim nächsten Mal schneller überwinden und reagieren zu können. Mut ist auch eine theoretische Entscheidung. Ich muss an die Polizistin denken, die am Berliner Hauptbahnhof den beiden flüchtenden Frauen hinterher rief: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie beim nächsten Mal mehr Zivilcourage zeigen können!“ Das wünsche ich uns allen.