Zehneinhalb Monate ist es her, dass meine Schwester in meinem Arm aufhörte zu atmen. Ich habe mir vorgenommen, sie auch dadurch in mir weiterleben zu lassen, indem ich die Welt durch ihre Augen zu sehen lerne.
Meiner Schwester war egal, wie jemand aussah, wie cool jemand war oder wie viel jemand verdiente. Sie gab sich auch keine Mühe, um jeden Preis geliebt oder auch nur beachtet zu werden. Sie war meistens geduldig und rücksichtsvoll, aber setzte klar ihre Grenzen. Sie lächelte zur Musik in ihrem Herzen, wenn ihr danach war, ohne sich darum zu kümmern, was andere dazu sagten. Sie konnte sich nicht verbiegen. Sie war authentisch und direkt. Ihre Liebe verteilte sie nicht wahlos, aber uneingeschränkt an die Auserwählten. Sie mochte keine Eile, aber wenn Leben in der Bude war. Sie lebte ganz im Augenblick, in der Gegenwart, ohne jemals ein schlaues Buch über Achtsamkeit gelesen zu haben. Wenn sie aß, aß sie. Wenn sie lachte, leuchteten ihre Augen. So hielt sie für alle, die sie kannten, die Welt für ein paar Stunden an.
Wenn ich früher in ihr Bett schlüpfte, um über mein Leben mit ihr zu reden, dann half sie mir, wichtig von unwichtig zu unterscheiden und brachte mich auf Kurs, indem sie einfach nur war. Ohne sie habe ich in den letzten Monaten lernen müssen, mein eigener Kompass zu sein. Viel bequemer war es, zu ihr zu gehen, wenn die Welt Purzelbäume schlug, sie die Arbeit machen zu lassen und dann eingenordet wieder in meinen Alltag zurückzukehren. Viel nachhaltiger und schmerzhafter ist es, mich selbst auf Kurs zu halten.
Nach den ersten zehneinhalb Metern kann ich sagen, dass ich das schon ganz ordentlich mache, aber noch ein langer Weg vor mir liegt. Und den gehe ich in meinem Tempo, Schritt für Schritt. Ich habe ja den Rest meines Lebens, um anzukommen.